Von Rechtsanwältin Funda İNAL CHUKAVIN (Antalya Bar Association Nr. 2054), Internationale Spezialistin für Handelsstreitigkeiten und Zwangsvollstreckung
Im türkischen Rechtssystem stellt die Schlichtungsvereinbarung (uzlaşma tutanağı) ein effizientes Instrument zur außergerichtlichen Streitbeilegung dar, insbesondere bei Handelsforderungen und Zwangsvollstreckungsverfahren. Das durch Artikel 35/A des türkischen Anwaltsgesetzes Nr. 1136 (Avukatlık Kanunu) geregelte Verfahren ermöglicht es den Parteien, Schulden ohne Gerichtsverfahren zu begleichen und verleiht dem Protokoll den Charakter eines vollstreckbaren Titels. Dieser Beitrag beleuchtet den rechtlichen Rahmen, das Verfahren und die Konsequenzen anhand eines aktuellen grenzüberschreitenden Falls mit Beteiligung europäischer, asiatischer und nahöstlicher Stakeholder.
Rechtlicher Rahmen der Schlichtung gemäß Art. 35/A
Der 2001 eingeführte und seither weiterentwickelte Artikel 35/A gilt für Geldansprüche (einschließlich Hauptforderung, Zinsen, Gerichtskosten und Anwaltshonorar). Wesentliche Grundsätze:
- Freiwilligkeit: Die Vereinbarung erfolgt im gegenseitigen Einvernehmen über türkische Baro-zugelassene Anwälte.
- Anwaltsbeteiligung: Verhandlungen werden ausschließlich von Anwälten geführt – dies gewährleistet Professionalität, Vertraulichkeit und Einhaltung ethischer Standards.
- Vollstreckbarkeit als Vollstreckungstitel: Das unterzeichnete Protokoll entspricht gemäß Zivilprozessordnung (HMK Art. 38) einem Gerichtsurteil. Es kann direkt bei der Vollstreckungsbehörde (İcra Dairesi) eingereicht werden, ohne weitere gerichtliche Prüfung.
International wird das Protokoll im Rahmen der New Yorker Konvention von 1958 (bei transnationalen Elementen) oder bilateraler Abkommen (z. B. Türkei-Russland-Rechtshilfeabkommen 1993) anerkannt. Für EU-Kunden ermöglicht die Brüssel-I-bis-Verordnung eine nahtlose Vollstreckung in EU-Staaten.
Verfahren zur Schließung einer Schlichtungsvereinbarung
Der Prozess beginnt mit der Einladung einer Partei (meist des Gläubigers) zur Verhandlung. Wichtige Schritte:
- Einleitung: Der Antragsteller (alacaklı) übersendet eine formelle Einladung (davet) über seinen Anwalt. Das Treffen findet in einer Anwaltskanzlei statt.
- Verhandlung und Unterzeichnung: Parteien oder Vertreter besprechen die Bedingungen. Das Protokoll wird in zwei identischen Ausfertigungen erstellt, von Anwälten und Parteien (falls anwesend) unterzeichnet; Datum, Uhrzeit und Ort werden festgehalten.
- Inhalt des Protokolls:
- Parteienidentifikation (Firmenname, Adresse, Steuernummer, Vertreter).
- Streitgegenstand (Verweis auf Vollstreckungsakte, Forderungshöhe).
- Zahlungsmodalitäten (Beträge, Fristen, Empfänger).
- Säumnisregelungen.
- Zusatzprotokolle (z. B. für Gegenanwaltshonorar gemäß Art. 164).
Praxisbeispiel: In der Vollstreckungsakte Nr. 2025/77596 der Vollstreckungsdirektion Antalya wurde eine Schuld von 153.400,00 USD durch eine Einmalzahlung von 130.000,00 USD bis zum 30. Dezember 2025 plus 10.000,00 USD Anwaltshonorar an den Gläubigervertreter (Zusatzprotokoll vom 06.11.2025) geschlichtet.
Rechtliche Folgen der Schlichtung
1. Vorteile für die Parteien
- Zeit- und Kostenersparnis: Vermeidung von Gerichtsgebühren (harç), Gutachten und Berufungen; Lösung in Wochen statt Jahren.
- Sofortige Vollstreckbarkeit: Einreichung bei İcra Dairesi für Kontopfändung, Vermögensarrest oder Lohnpfändung (Vollstreckungs- und Konkursgesetz Art. 89–143).
- Aktenabschluss: Vollständige Erfüllung führt zur Einstellung des Verfahrens (takipsizlik).
- Steuerliche Aspekte: Geschäftsschulden sind in der Regel MwSt.-frei; Anwaltshonorare brutto mit Quellensteuer (Art. 164).
2. Folgen bei Säumnis
- Automatische Nichtigkeit: Fristversäumnis (z. B. 30.12.2025) macht die Vereinbarung ohne Mitteilung unwirksam. Ursprüngliche Forderung erwacht (153.400,00 USD + Zinsen nach TMK Art. 120 oder vertraglich).
- Zwangsvollstreckung: Gläubiger leitet direkt Vollstreckung ein; zusätzliche Gebühren (icra harcı: 1–2 % der Forderung).
- Sanktionen: Verzugszinsen, grenzüberschreitende Vermögensverfolgung.
- Unabhängige Honorarvollstreckung: Nichtzahlung des Anwaltshonorars (10.000,00 USD) beeinträchtigt das Hauptprotokoll nicht, eröffnet aber separaten Klageweg (Art. 164).
3. Grenzüberschreitende Aspekte für deutsche und europäische Kunden
- Ausländische Unternehmen (z. B. Hong Kong, VAE): Vollmacht (vekaletname), notariell beglaubigte Unterschriftsprobe (imza sirküleri) und Apostille (Haager Konvention 1961) erforderlich.
- Vollstreckung in der EU: Anerkennung nach Brüssel I bis; außerhalb der EU (z. B. UK post-Brexit) über Common-Law-Verfahren.
- Risikominderung: Zahlungen an Dritte (z. B. POLTER TRADING FZE, VAE) entbinden den Anwalt nach Honorarabzug von Haftung. Europäische Mandanten sollten eine Vollmachtsbestätigung (confirmation of authority) verlangen.
Praktische Empfehlungen
- Gläubiger: Exakte Fristen und Kontodaten festlegen; Vollmachtsunterlagen einfordern.
- Schuldner: Berechnungen prüfen; strikte Fristeinhaltung entscheidend.
- Anwälte: Vertraulichkeit wahren; Zusatzprotokoll für Honorarbindung obligatorisch.
Schlichtungen nach Art. 35/A lösen jährlich über 100.000 Fälle in der Türkei, entlasten die Justiz und bieten in internationalen Handelsstreitigkeiten Vorhersagbarkeit. Für deutschsprachige Kunden ermöglichen sie kosteneffiziente Forderungseintreibung mit starker Vollstreckbarkeit.